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Malaysia hautnah

Posted by on 23. Oktober 2011

Wie wir zu Alfreds Hausgästen wurden habe ich ja bereits erzählt. Die nächsten Tage waren gefüllt mit malaiischem Chaos, großer Herzlichkeit unseres Gastgebers, unglaublichen Geschichten über die sozialen Mißstände in Malaysia und vor allem dem hautnahen Erleben wie Fischerfamilien ihren Alltag verbringen.

Alfred ist gebürtiger Filipino, hat als Elektroingenieur in verschiedenen vor allem arabischen Ländern gearbeitet, und lebt nun seit einigen Jahren in Sandakan, wo er auch Familie hat. Dort lebt er nun ganz einfach, als Fischer, und scheint glücklich mit seinem Lebensstil. Die Leute, die wie Alfred in der Stelzensiedlung wohnen, sind wie eine große Familie. Die Holzhäuser stehen offen, Leute gehen bei den Nachbarn ein und aus als ob es ihr eigenes Haus wäre. In Alfred’s Haus war sowieso immer viel los, da er jedes der sechs Zimmer an eine andere Familie untervermietet hatte. Aber nicht nur Häuser werden hier als gemeinschaftliches Gut gesehen. Eines Morgens suchte ich meine Flipflops, aber sie waren in dem Stapel von Sandalen vor der Tür unauffindbar. Also erstmal barfuß den Steg entlang, und prompt kam nach ein paar Minuten jemand angeradelt der meine Schuhe anhatte. Anscheinend nimmt sich hier eben jeder vom „Gemeinschaftsstapel“ was er grade braucht.

Auffällig war für uns, dass viele der Leute in der Stelzensiedlung nicht arbeiten. Den ganzen Tag hängen sie auf den Stegen vor ihren Häusern rum, schlafen, angeln… Alfred erzählte uns dass die meisten von ihnen Malaien sind, die Sozialhilfe vom Staat bekommen. Zusammen mit den Fischen, die sie sich fangen wenn sie Hunger haben, reicht ihnen das zum Überleben. Wieso also arbeiten?

‚Von der Hand in den Mund leben‘ bekam hier eine neue Bedeutung. In Alfreds Küche war ein Loch im Holzboden. Abends saßen die Hausbewohner drumrum, hängten eine Schnur mit Angelhaken ins Wasser, und zogen Minuten später ihr Abendessen durch das Loch in die Küche. Auch wir kamen des öfteren in den Genuss von solch fangfrischem Fisch, oder auch Krebse, die Alfred für uns gefangen hatte. Es gab drei verschiedene Arten – Sandkrebse, Mangrovenkrebse und Meereskrebse. Die armen Dinger wurden lebendig in den Topf gestapelt und auf den Herd gestellt. Und ich dachte immer es wäre grausam Krebse lebend ins kochende Wasser zu werfen. Trotz ihres fürchterlichen Todes waren die Krebse aber extrem lecker, und dank Einweisung von den Einheimischen wissen wir jetzt auch endlich wie man Krebse richtig isst.

Neben den ganzen Krebsen und Fischen, die in verschiedenen Reusen rund um das Stelzenhaus im Wasser baumelten, hielt Alfred sich einige weitere ‚Haustiere‘. Zwei Katzen, die Mäusen und Ratten den Garaus machen sollten, und zwei Echsen. Diese Reptilien hatte er in der Wildnis gefangen und zog sie jetzt in einem Terrarium groß. Er erzählte uns von einem Käufer aus Singapur, den er schon an der Hand hatte, der ihm für den ausgewachsenen Leguan eine Unsumme zahlen würde – das Blut des Leguans wirke laut traditioneller Chinesischer Medizin Wunder gegen Krebs. Illegale Geschäfte sind uns hier noch öfter begegnet. Zum Beispiel als wir mit Alfred über den Markt in Sandakan schlenderten und uns unter der Hand Schildkröteneier angeboten wurden – ebenfalls illegal, aber offensichtlich leider üblich.

Ein anderes riesiges Problem, nicht nur in dieser Stelzensiedlung, ist die Müll- und Abwasserbeseitigung. Brauchwasser geht alles direkt ins Meer, ebenso der Abfall, egal ob Bananenschalen oder Plastiktüten. Die Leute haben die Einstellung ‚Alles kommt aus dem Meer, und alles geht wieder ins Meer‘. Leider funktioniert das im Plastikzeitalter nicht mehr, aber verstanden hat das hier noch niemand und umdenken ist zu anstrengend. Als wir unseren Müll bis zu den Tonnen an der Haupstrasse tragen, statt ihn bequem einfach unter uns ins Meer zu werfen, werden wir von den Einheimischen belächelt. Ebenso ungläubige Gesichter machen die Fischer, als wir uns einmal eine Schüssel Salat machen. Das Konzept, dass man Gemüse auch roh und ohne Fisch essen kann, scheint den Fischern fremd…

Täglich sahen wir philippinische Boote und Fähren vor der Küste, da Sandakan von den Phillippinen der nächste Hafen in Malaysia ist. Weil viele Malaien lieber Sozialhilfe kassieren als schlecht bezahlte Jobs (auf Baustellen, Palmölplantagen etc) anzunehmen, gibt es ca. drei Millionen Wanderarbeiter, geschätzte zwei Millionen davon sind illegale Einwanderer. Neben Indonesien kommt ein Großteil dieser illegalen Arbeiter aus den Philippinen. Von Alfred, selbst gebürtiger Filipino, bekamen wir jede Menge Geschichten über die Schwierigkeiten der Einwanderer mit. So arbeiten viele von ihnen auf Großbaustellen, und laut Alfred kam es nun schon öfter vor, dass kurz vor Fertigstellung des Projekts eine Razzia stattfindet, und alle illegalen Wanderarbeiter deportiert werden, ohne dass sie einen Cent ihres Lohns gesehen haben. Offensichtlich ist es für die Bauträger billiger die Polizei zu bestechen als die Arbeiter zu bezahlen. Staunend hörten wir auch, dass Kinder ohne malaiische Staatsbürgerschaft an staatlichen Schulen nicht angenommen werden. Die chinesischen Malaien, die ca. 24% der Bevölkerung Malaysias ausmachen, haben sowieso ihre eigenen Schulen, dasselbe gilt für die Malaien indischer Herkunft (7%). Für die Kinder der illegalen Wanderarbeiter jedoch scheint kein Platz in der Gesellschaft. Da die Eltern keine Papiere haben, kommen viele der Kinder zu Hause auf die Welt und besitzen somit keine Geburtsurkunde und Papiere, die ihnen Zugang zum malaiischen Schulsystem gewähren könnten. Alfred erzählte uns dass es einen Schwarzmarkt für Geburtsurkunden gibt – echte Urkunden von verstorbenen Kindern werden verkauft. Er meinte das Kind müsse eben seinen Namen entsprechend der Urkunde ändern, wenigstens könne es dann zur Schule gehen. Vor kurzem hat in der Stelzensiedlung eine katholische Organisation aus den Philippinen eine Schule gebaut, die die Kinder auch ohne Papiere aufnimmt. Auch wenn von Regierungsseite wenig bis nichts unternommen wird um diese sozialen Mißstände zu beseitigen, so ermöglichen solche Projekte den Kindern der Wanderarbeiter wenigstens eine Schulbildung.

Die Tage bei Alfred und den Fischerfamilien waren interessant, witzig, manchmal schockierend. Auf jeden Fall war es Malaysia hautnah.

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